Der Bildhauer Ridolfo Schadow

Die Figurengruppe "Das Urteil des Amor"

Wer ist die Liebste?

In seinem römischen ↗Atelier plante Ridolfo Schadow, vier seiner Einzelfiguren in Beziehung zueinander zu setzen. In Briefen an seinen Vater Johann Gottfried Schadow ist daher zuweilen von der „Gruppe“ die Rede: Amor und die drei Mädchenfiguren, die Spinnerin, die Sandalenbinderin und das Mädchen mit Tauben (Die Unschuld). In einem privaten Schreiben an seinen Gönner und Förderer Nikolaus II. Esterházy de Galantha (1765-1833) vom 21. Dezember 1819 beschrieb Ridolfo, dass er von Anfang an geplant habe, den drei Mädchenfiguren einen Amor gegenüber zu stellen, der „sich besinnt welcher der 3 Schwestern er den Kranz welchen er in der rechten Hand hält aufsetzen sollte“. Schadows künstlerische Vision einer mehrfigurigen Skulpturengruppe wäre zudem ein markstrategischer Schachzug gewesen: Interessenten und Sammler hätten die Figuren einzeln erwerben oder nach und nach zusammenstellen können. Diese Idee blieb wegen seines frühen Todes unveröffentlicht. Selbst Friedrich Wilhelm III. von Preußen, der wohl als einziger alle vier Figuren in seinem Besitz hatte, wusste offenbar nichts davon. Erst mit der Zusammenstellung aller vier Skulpturen ab Ende Mai 2022 im Neuen Flügel von Schloss Charlottenburg in Berlin wird Ridolfos Plan erstmals umgesetzt.

Mit Amors Attribut, dem Blumenkranz in seiner rechten Hand, verweist die Gruppe auf die bekannte mythologische Erzählung vom Urteil des Paris, in der der trojanische Jüngling die Schönste unter drei Göttinnen küren muss. Anders als Paris ist Amor nicht gezwungen, ein Urteil zu fällen. Er hat seine Waffen beiseitegestellt. Seine Wahl für die Anmutigste oder die Liebste trifft er mit dem Blumenkranz und nicht mit Pfeil und Bogen. Der Gott der Liebe blickt noch nachdenklich auf die drei irdischen Mädchen im Alter von etwa zwölf bis 18 Jahren. Sie sind in alltägliche Tätigkeiten und Spielereien versunken. Während die Jüngste sich die Sandalen bindet, lässt die Mittlere eine Spindel austrudeln. Die Älteste entlässt einen Vogel aus ihrer Obhut.

Ridolfo Schadow lebte in Rom im ↗Haus der Anna Maria Buti (1766-1845), die zahlreiche Künstler beherbergte. Ihre drei Töchter Elena, Vittoria und Olimpia saßen den anwesenden Malern und Bildhauern häufig Modell. So liegt es nahe, in Schadows drei weiblichen Sitzfiguren die Buti-Töchter zu sehen. Er selbst sprach in dem oben zitierten Brief von den „3 Schwestern“. Darüber hinaus bot Schadow in den einzelnen Darstellungen sowie im Zusammenspiel der Figuren vielfältige Bezüge zu mythologischen Themen an. Die Darstellung von drei jungen Frauen verweist auf das bei Künstlern seit jeher beliebte Motiv der drei Grazien und der Schicksalsgöttinnen. So könnte die Spinnerin als Schicksalsgöttin Klotho interpretiert werden, während die Sandalenbinderin als Darstellung der Aglaia, die jüngste der drei Grazien, gesehen werden kann und das Mädchen mit Tauben als Thalia, die Grazie des blühenden Glücks.

Der Bildhauer Antonio Canova verarbeitete das Motiv 1797 zunächst in einem Gipsrelief und vermutlich um 1810 in einem ↗Relief in rötlichem Marmor, das in vielen Momenten an Schadows Gruppe erinnert: Drei tanzende Grazien, die Venus mit Blumen bekränzen, werden von dem am Rand der Szene sitzenden Mars beobachtet. Auch er hält einen noch unfertigen Blumenkranz in den Händen. Das heute verschollene Relief gelangte als Geschenk des Papstes Pius VII. wohl nach 1815 an den preußischen König Friedrich Wilhelm III. und befand sich im Königlichen Palais in Berlin, später im Hohenzollern-Museum im Schloss Monbijou. Möglich ist es, dass Schadow eine Zeichnung oder einen Kupferstich davon gesehen hat, was ihn zur Zusammenschau seiner Figuren inspirierte.

Mit Sicherheit kannte Ridolfo die aufwendigen und berühmten Figurengruppen der drei Grazien von Canova und Bertel Thorvaldsen. Anders als seine gefeierten Bildhauerkollegen hatte Schadow weder den Auftrag noch das Geld, um die Ausgaben für ein eigenes großes, mehrfiguriges Bildwerk bestreiten zu können. Sein Erfolg stellte sich nach fast zehn Jahren in Rom gerade erst ein und beruhte vor allem auf der Beliebtheit der drei weiblichen Skulpturen. Damit war offensichtlich seine Idee geboren, die Spinnerin, die Sandalenbinderin und das Mädchen mit Tauben – vervollständigt durch die Figur des Amor - als ein Ensemble zu betrachten.

Sylva van der Heyden, Silke Kiesant

2022-05-24

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