Gleim und der Krieg

Brief von Gleim an Ewald Christian von Kleist, 20.1.1758

Keine Quelle könnte die verzweifelte Lage nach dem Einmarsch eines französischen Exekutionskommandos drastischer beschreiben als der Brief Gleims an Kleist vom 20. Januar 1758:

Halberstadt, den 20. Januar 1758.
Ohne Zweifel wissen Sie schon, welches große Unglück unsre arme Stadt betroffen hat. Tausendmal habe ich Sie an die Stelle des Generals gewünscht, von dem wir auf so schändliche Art verlassen sind. Denn so gewiß als etwas auf der Welt, hätte er mit der Hälfte der Leute, die er hatte, sie zum Teufel jagen können. - Doch nein, jagen nicht, denn sie konnten nicht laufen, sie waren Eisklumpen, außer Stande, auch nur einen Schuß zu thun. - Sie gaben sich für 12000 Mann aus und sind wol kaum 5000 gewesen. Sie kamen in drei Colonnen, von jeder habe ich Offiziere gesprochen; einer sagte, die seinige sey 900 Mann gewesen, die andern beiden gaben die ihrigen jeder zu 1500 Mann aus, zusammen also 3900 Mann, die nicht auf einmal kamen, sondern nach einander, die erste mit Anbruch des Tages, die andre um 9 Uhr, die dritte Mittags. Es ist ein so entsetzlicher verfehlter Streich, daß ich vor Ärger und Groll kaum davon schreiben mag. Die Franzosen wunderten sich mehr, als wir, sich in unserer Stadt zu sehen. Ein Brigadier vom Regiment Bavarois sagte mir: "Es ist wahr, 100 Man hätten unsre Colonne über den Haufen geworfen. Wir waren alle erfroren." - Sie waren 24 Stunden in der größten Kälte marschiert; beim Einmarsch fielen sie haufenweise auf den Straßen um. An dreihundert Gewehre, sagten sei, wären unterwegs entzwei gefallen. Kaum aber hatten sie sich erwärmt, als wir das grausamste Schicksal erfahren mussten. Der Soldat lebte auf Discretion, beging tausend Excesse, prügelte, setzte den Leuten die Degen auf die Brust. 200 000 Thaler wurden gefordert, alle Häuser sollten visitirt werden, und wo mehr als 4 Thlr. gefunden würden, sollte geplündert und in Brand gesteckt werden. Jedermann trug sein bischen Armuth dem Feinde zu. Es war ein Gedränge, nicht als wenn man das Seinige weggäbe, sondern als wenn man es holte; durch Reihen der Feinde war das Gedränge, die man grausamer Tigerfreude über die Menge, da jeder sein Päckchen emporhielt, um es nur bald los zu werden, großes Gelächter erhoben. Dann sollten in einigen Stunden 18000 Scheffel Getreide geschaffet werden; unter Bedrohung von Brand und Plünderung sollte kein Haus mehr als drei Scheffel behalten. Es half kein Bitten und Flehen. Man schleppte in Körben, Säcken und Schürzen Alles zusammen. Als man alles gethan, wurden beim Abschied noch sechs Geißeln mitgenommen. Das Winseln und Wehklagen dieser 5 Tage (vom 11. bis 16.) werde ich nie vergessen. Schrecken habe ich meinerseits nicht gehabt, aber Aerger genug, und meine ganze Seele war Groll, - Groll ist auch die ganze Stadt. Der Herr G[eneral] J[uncken] darf sich gewiß nicht hier sehen lassen. -
Man sagt, er sei bereits nach Magdeburg. Schreiben Sie mir doch, ob es wahr ist, damit ich [mich] darüber freun kann, - meine erste Freude über das Unglück eines Menschen! Aber sie ist gewiß gerecht. Indeß mag vorerst von meinem patriothischen Eifer Niemand etwas wissen als Sie, liebster Freund! Am Wenigsten müssen Sie Ihrem Chef wieder sagen, was Sie von mir erfahren! - Mich verlangt sehr, den Graf H [enckel] zu sprechen. Er war den Abend vor der Tragödie bis um 8 Uhr bei mir, wußte aber noch von nichts. Des Nachts um 12 Uhr ward ich die erste Bewegung der Garnison gewahr. Wie, wenn sie positiven Befehl gehabt hätten, sich zurückzuziehen? - Dann wäre sie freilich, aber doch nur einigermaßen entschuldigt! - Friedrich und der Grenadier müssen die ……… noch dreimal schlagen; alsdann sollen sie schon zu Kreuz kriechen. - Officiers, die bei Roßbach gelaufen waren, sprachen zwar mit mehr Hochachtung vom Könige als sonst; " aber er muß doch klein werden," sagten sie. "Geschlagen wir seine Zwanzigtausend nicht mit Hunderttausend, so lassen wir noch einmal so viel Volk kommen." Ich umarme Sie tausendmal, liebster Kleist! Jammerschade, daß wir uns nicht zu Bernburg haben sehen können! Schreiben Sie mir doch ja bald! Und lassen Sie doch unsern Lessing mir fein oft schreiben! Ich bin ewig
Ihr treuer Damon
Herrn Sulzern und H. Ramlern müssen die Lieder des Grenadiers nicht so gut gefallen haben als Ihnen, Herr Lessing und mir; sie reden in ihren Briefen ziemlich kaltsinnig davon. Wie mag da zugehn? Fehlt es ihnen an Geschmack, oder sind sie keine Patrioten? Sulzer aber ist gewiß ein Patriot. Ramler kann keiner sein, weil er bei solchen Gelegenheiten stumm sein kann. Das Lied auf ec. bei Lissa ist fertig; Her Lessing aber muß mir erst schreiben, wenn er es haben will.
Haben Sie mein Schreiben bekommen, das ich auf Bernburg habe gehen lassen? Der dortige Postmeister wird doch wohl so klug gewesen sein und es dem Hautzischen Regiment nachgeschickt haben?
Geben Sie mir doch von Ihrer und Herrrn Lessing’s Muse wieder etwas zu lesen, damit mein Aerger unterbrochen werde! Fragen Sie doch Herrn Lessing, wer der Verfasser von dem "Recueil de quelques poésies nouvelles" ist? Er soll ein Preuße sein und ist werth, einer zu sein. Lesen Sie es gleich, wenn Sie es noch nicht kennen! Die Ekloge "Les fleuves" hat mir insonderlich gefallen.

Textgestalt nach Ewald von Kleist‘s Werke. Hg. v. August Sauer, Berlin [1883], Bd. 3, S. 278-280

(Object from: GLEIMHAUS Museum der deutschen Aufklärung Original entry)

Material /Technique ...

Handschrift auf Papier

Measurements ...

e. 2 Bl. 4°

Written ...

... Who:

... When:January 20, 1758

... Where:Halberstadt 

[Relationship to location] ...

Halberstadt 

Literature ...

  • Lacher, Reimar F. (2017): "Friedrich, unser Held" - Gleim und sein König. Göttingen
  • Sauer, August (1883): Ewald von Kleist‘s Werke. Berlin