"Krieg ist mein Lied"

Brief von Gotthold Ephraim Lessing an Gleim, 16.12.1758

Lange erhielt Gleim auf die Übersendung des Zorndorf-Liedes am 22. November 1758 keine Antwort von Lessing. Über Ramler erfuhr er, dass Lessing, der sich zwischenzeitlich in Berlin niedergelassen hatte, Einwände gegen die Dichtung habe. Endlich bringt Lessing in dem vorliegenden Brief schroffe Ablehnung zum Ausdruck. Einige Stellen möchte er nicht zum zweiten Mal lesen. Die Haare stehen ihm zu Berge. Die Versöhnung nach dem Krieg werde durch die Ausfälle gegen die Russen verbaut. Die Verunglimpfungen der Russen muss in der Urfassung wohl erheblich weiter gegangen und nach Vorschlägen von Uz, Ramler, Kleist und Lessing gemildert worden sein.
"Der Patriot überschreiet den Dichter zu sehr". Der Patriot wird dem Dichter und Weltbürger gegenübergestellt. Diese Denkfigur Lessings hat sich in der Literaturgeschichte verselbständigt. Hiervon ausgehend wurde Lessing oft als Weltbürger dem Patrioten Gleim gegenübergestellt. Bis dahin hatte Lessing Gleims patriotische Lieder angeregt, entschieden gelobt, gesammelt herausgegeben (##) und sich auch selbst als preußischen Patrioten bezeichnet. Lessing und Gleim gerieten über das Zorndorf-Lied in einen brieflichen Streit, der von dem vorliegenden Schreiben eröffnet wird.
Auffallend ist, dass Lessing sich dennoch für die Publizierung einsetzte. Offenbar ließ er das Werk literarisch gelten. Doch habe es, so Lessing, die derzeit strenge preußische Zensur nicht passiert. Anstößig sei eine Erwähnung von Friedrichs Jugendfreund de Katt. Schließlich gelang es Lessing, die Dichtung zum Druck zu befördern, der sich in Format und Ausstattung an die bereits vorliegende Edition der Kriegslieder anschloss. Einen weiteren Druck veranlasste Kleist bei seinen Freunden in Zürich.

Liebster Freund,
Ich bleibe Ihnen die Antwort auf ihre letzten sehr angenehmen Briefe lange schuldig. Sie werden die Ursache gleich hören. Vor allen Dingen muß ich Ihnen sagen, daß ich das Gedicht unsers Grenadiers, als ein Gedicht, mit dem größten Vergnügen gelesen habe. Er ist hier weit ernster, feierlicher, erhabner, als in seinen Liedern, ohne deswegen aus seinem Charakter zu gehen. Allein soll ich es für nichts, als für eine Wirkung seiner frappanten Art zu malen halten, wenn mir bei verschiedenen Stellen, vor Entsetzen die Haare zu Berge gestanden haben? Sehen Sie, liebster Freund, ich bin aufrichtig, und ich kann es gegen Sie ohne Gefahr sein. Ich wollte diese Stellen nicht zum zweiten male lesen, und wenn ich noch so vieles damit gewinnen könnte. Ja gesetzt, es wird über kurz oder lang Friede; gesetzt, die itzt so feindselig gegen einander gesinnten Mächte, söhnen sich aus (ein Fall, der ganz gewiß erfolgen muß) was meinen Sie, daß alsdenn die kältern Leser, und vielleicht der Grenadier selbst zu so mancher Übertreibung sagen werden, die sie itzt in der Hitze des Affects für ungezweifelte Wahrheiten halten? Der Patriot überschreiet den Dichter zu sehr, und noch dazu so ein soldatischer Patriot, der sich auf Beschuldigungen stützet, die nichts weniger als erwiesen sind! Vielleicht zwar ist auch der Patriot bei mir nicht ganz erstickt, obgleich das Lob eines eifrigen Patrioten, nach meiner Denkungsart, das allerletzte ist, wonach ich geizen würde; des Patrioten nemlich, der mich vergessen lehrt, daß ich ein Weltbürger sein sollte. In diesem Falle also, wenn es nemlich eine bloße Collision des Patriotismus ist, die mich diesesmal mit unserm Grenadier weniger zufrieden macht, als ich sonst zu sein so viel Ursachen habe "veniam petimus, dabimusque vicissim". Ich war auch, in Betrachtung dessen, gar nicht Willens das Gedicht unsers Grenadiers zu unterdrücken, oder wenigstens vom Drucke abzuhalten. Allein da itzt, bei großer Strafe, nicht eine Zeile ohne Censur und Erlaubnis hier in Berlin gedruckt werden darf, so mußte es notwendig vorher censiert werden und erst heute erfahre ich, daß es die Censur nicht passieren kann. Ohne Zweifel ist die anstößige Erwähnung des von Katt die vornehmste Ursache. Der König hat sich in dieser Sache selbst zu öffentlich Unrecht gegeben, als daß es ihm angenehm sein könnte, sich auf eine solche Weise daran erinnert zu sehen.
Unter dessen, liebster Freund, werde ich das Gedicht doch bei mir behalten, und in wenig Wochen einen Gebrauch davon machen, bei welchem der Dichter keine Gefahr läuft, und der Herausgeber sich nichts vorzuwerfen hat. Sie sollen damit zufrieden sein; ich weiß es gewiß. Zeigen Sie aber dem Grenadier diesen meinen Brief nicht; denn ich fange wirklich an, mich vor ihm zu fürchten. Es scheinet er läßt sich zu leicht in Harnisch jagen. Sein Major [Kleist] hat weit kältres Blut, und ich würde wider den Schluß seines Cissides nichts zu sagen haben, wenn ich auch der eifrigste Verfechter der Gegenpartei wäre. Ich bin es aber nicht; das wissen Sie.
Leben Sie wohl, liebster Freund, und schreiben Sie mir mit nächster Post, wenn ich nicht glauben soll, daß ich Sie durch diesen Brief unwillig gemacht habe. Ich bin Zeitlebens
ihr ergebenster Freund Leßing
Berlin den 16 December 1758

Textgestalt nach: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Wilfried Barner u. a. Bd. II/1: Briefe von und an Lessing 1743-1770. Hg. v. Helmuth Kiesel u. a. Frankfurt/M. 1987 /Bibliothek deutscher Klassiker 17), S. 305 f.

(Object from: GLEIMHAUS Museum der deutschen Aufklärung Original entry)

Material /Technique ...

Handschrift auf Papier

Written ...

... Who:

... When:December 16, 1758

... Where:Berlin 

Received ...

... Who:

... Where:Halberstadt 

[Relationship to location] ...

Sarbinowo, Gmina Dębno 

[Relationship to location] ...

Prussia 

Literature ...

  • Barner, Wilfried (1987): Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Frankfurt
  • Lacher, Reimar F. (2017): "Friedrich, unser Held" - Gleim und sein König. Göttingen